Martin Hirsch, einer der bedeutendsten Juristen in der Bundesrepublik, ist gestern im Alter von 79 Jahren gestorben. Der frühere Verfassungsrichter, 1913 in Breslau geboren, starb nach langer, schwerer Krankheit zu Hause in Berlin.
„Juristen sind zu allem fähig“
Martin Hirsch schrieb nicht nur in seiner Zeit als Richter beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe (1971 bis 1981) Rechtsgeschichte. Er scheute sich nicht, auch mit seinem Berufsstand hart ins Gericht zu gehen. Ludwig Thoma zitierend („Er ist ein Einser-Jurist, aber auch sonst von mäßigem Verstand“), hielt er seinen Kollegen wiederholt mangelndes Gefühl für Recht und Gerechtigkeit, eine unzureichende Allgemeinbildung und fehlende menschliche Wärme vor. Als beispielsweise 1981 im Nürnberger Kommunikationszentrum KOMM 141 meist jugendliche Personen im Anschluss an eine Hausbesetzer-Demonstration nicht nur kollektiv festgenommen, sondern von fünf Ermittlungsrichtern illegal in Untersuchungshaft verfrachtet wurden, beteiligte sich Hirsch an Protestaktionen. Er verurteilte öffentlich das Fehlverhalten der bayerischen Behörden. Der Justiz schrieb er damals ins Stammbuch: „Juristen sind zu allem fähig.“ Leider seien „Richter, die sich wie Erfüllungsgehilfen der Mächtigen gebärden, immer noch nicht ganz ausgestorben“.
Damals wie heute gilt sein Satz: „Ethischer oder politischer Staatsschutz genießt bei den meisten noch immer höhere Priorität als der Schutz vor dem Staat.“
Sieben Jahre später beteiligte sich Hirsch — der seit seiner Schulzeit an keiner Demonstration mehr teilgenommen hatte — an Sitzblockaden vor dem Giftgas-Lager in Fischbach. Seinen spektakulären Schritt verteidigte er als „Akt des Widerstandes nach Artikel 20 des Grundgesetzes“. Jeder einzelne, erklärte der streitbare Jurist damals, habe „nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, Widerstand zu leisten, wenn der Staat etwas tut, was dem Grundgesetz widerspricht“.
Hirsch hatte Rechtswissenschaften in Breslau, Innsbruck und Berlin studiert. Nach seiner Kriegsteilnahme (1941 bis 1945) praktizierte der Jurist im fränkischen Marktredwitz, im August 1963 zog er nach Berlin. Vor seiner Ernennung zum Verfassungsrichter war Hirsch für die SPD mehrfach als Landtags- und Bundestagsabgeordneter tätig. Die Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Juristen ernannte ihr einstiges Vorstandsmitglied zu ihrem Ehrenvorsitzenden.
Die SPD-Vorstandssprecherin Cornelie Sonntag erinnerte daran, dass Hirsch eine große Epoche deutscher Rechtsprechung maßgeblich geprägt habe. Vor allem als Bundesverfassungsrichter habe er „immer wieder für den liberalen, vorwärts gewandten Geist unseres Grundgesetzes gekämpft und dabei auch unbequeme Positionen gegen konservative Ausdeutungen unseres Rechtswesens mutig und engagiert verteidigt“. Zuletzt verwahrte Hirsch sich gegen den Versuch, dem ehemaligen Partei- und Staatschef der DDR, Erich Honecker, den Prozess zu machen. Hirsch hatte angekündigt, im Fall einer Auslieferung durch die russischen Behörden den greisen Honecker vor Gericht verteidigen zu wollen.