SPIEGEL Gespräch mit dem scheidende Verfassungsrichter Martin Hirsch „Juristen sind zu allem fähig“
Der scheidende Verfassungsrichter Martin Hirsch über Richter im Dritten Reich und in der Bundesrepublik
SPIEGEL: Herr Hirsch, Sie treten demnächst, mit 68, als Bundesverfassungsrichter ab und geraten fast in jeder Woche mit der einen oder anderen Stellungnahme in die Schlagzeilen -mit einem Kommentar zu den Massenverhaftungen in Nürnberg zum Beispiel oder wegen Reminiszenzen an die Rolle der Justiz im Dritten Reich. Warum geben Sie jetzt die landesübliche Richter-Reserve auf?
HIRSCH: Ich bin immer der Ansicht gewesen, daß ein Verfassungsrichter auch außerhalb des Gerichts ungezwungen seine Meinung sagen soll. Aber früher habe ich mehr Rücksicht nehmen müssen, damit ich nicht von irgend jemand wegen Befangenheit abgelehnt wurde. Diese Gefahr besteht ja nun nicht mehr, ich bin Verfassungsrichter auf Abruf. Mir ist durch die verzögerte Wahl eines Nachfolgers die Chance gegeben worden, mal sehr offen meine Meinung zu sagen.
SPIEGEL: Die CSU hat innerhalb weniger Wochen zweimal Ihre Maßregelung verlangt, und auch der Deutsche Richterbund ist nicht sehr angetan. Was das berufliche Selbstverständnis anbelangt, tut sich eine Kluft auf zwischen Ihnen und der schweigenden Mehrheit Ihrer Kollegen. Die halten es für standeswidrig, wenn ein Richter aktuelle Rechtsfragen kommentiert. Wo ziehen Sie die Grenze zwischen reden dürfen und schweigen müssen?
HIRSCH: Eine klare Grenze wird es da wohl nicht geben. Ich entscheide von Fall zu Fall, ob und was ich sage. Im übrigen bin ich Optimist und hoffe, daß die schweigende Mehrheit nicht die Meinung des Richterbundes teilt. Und um ehrlich zu sein: Es gibt eine ganze Reihe von Juristen, deren Empörung ich als Kompliment empfinde. Sie halten mich für einen Nestbeschmutzer, obwohl ich das Gegenteil tue -ein beschmutztes Nest saubermachen.
SPIEGEL: Sie haben die Nürnberger Massenverhaftung von 141 jungen Leuten „unverhältnismäßig“ genannt und den Kritikern Ihrer Kritik entgegengehalten: Ein Richter Ihres Jahrgangs, der Zeuge der Hitler-Willkür geworden sei, habe manchmal nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht, seine Stimme zu erheben. Die meisten deutschen Richter vertreten die Gegenposition und sind stolz auf solche Zurückhaltung.
HIRSCH: Abstinenz fordern die meisten Konservativen nur, wenn ihnen eine Meinung nicht in den Kram paßt. Das war schon immer so.
SPIEGEL: Die angepaßte Meinung ist erlaubt, die unangepaßte gilt als standeswidrig?
HIRSCH: Das ist das Ärgerliche. Wenn jemand meint, Hirsch, du hast was Falsches gesagt, ist das sein gutes Recht. Aber einem Richter den Mund verbieten zu wollen, das halte ich für schändlich. Wenn Präsident Benda politische Meinungen von sich gibt, sogar solche, die ich weitgehend teile, protestiert niemand.
SPIEGEL: Sie sind im Kaiserreich geboren, haben die Weimarer Republik wie das Hitler-Reich erlebt und die Bundesrepublik politisch mitgestaltet. Sie haben als Anwalt vor Richtern plädiert, als Rechtspolitiker Richter gewählt und befördert, als Verfassungsrichter selbst die Robe getragen -wenn Sie die deutschen Richter von vorgestern, von gestern, von heute miteinander vergleichen: Sehen Sie da mehr Unterschiede oder mehr Parallelen?
HIRSCH: Im großen und ganzen hat sich nicht sehr viel verändert, was wohl auch daran liegt, daß sich in der Ausbildung nicht viel geändert hat. Aber: Ich müßte lügen, wenn ich sagen würde, ich hätte überwiegend schlechte Erfahrungen mit Richtern gemacht. Das Gegenteil ist der Fall. Ich habe, sogar im Dritten Reich, exzellente Ausbilder gehabt. Ich habe als Anwalt in Oberfranken — von ein, zwei Ausnahmen abgesehen — vorwiegend gute, wohlwollende, gerechte Richter erlebt.
SPIEGEL: Das klingt so, als sollte nun ein „Aber“ kommen.
HIRSCH: Die Richter in der Weimarer Republik wollten ihren Kaiser Wilhelm wiederhaben und standen der Republik feindlich gegenüber. Dies alles gilt heute nicht mehr. Kaiser Wilhelm will niemand wiederhaben, und Hitler wünscht sich auch keiner zurück. Aber in ihrer konservativen Grundhaltung, in ihrem positivistischen Denken und in ihrer Neigung zu gewissen juristisch-rabulistischen Kunststücken hat sich nur wenig geändert, ein bißchen vielleicht, aber noch nicht genügend.
SPIEGEL: Deutschlands Richter haben es immer für eine Tugend gehalten, unpolitisch zu sein oder sich unpolitisch zu geben. War ihre Rechtsprechung dafür um so politischer?
HIRSCH: Oft mit konservativer oder gar reaktionärer Schlagseite -ein Musterbeispiel war die Verurteilung des „Weltbühnen“-Herausgebers Carl von Ossietzky in der Weimarer Republik wegen angeblichen literarischen Landesverrats.
SPIEGEL: Sie meinen, wenn man die letzten hundert Jahre seit Gründung des Reichsgerichts betrachtet, seien trotz vieler Fortschritte Züge von S.90 Kontinuität unverkennbar? Ist bei den Richtern nach wie vor der Hang zu beobachten, sich wie Polizisten in Robe aufzuführen? Werden die Linken immer noch härter rangenommen als die Rechten?
HIRSCH: Das zieht sich wie ein roter Faden durch die Rechtsprechung. Im Kaiserreich galten Sozialdemokraten als Kriminelle, in der Weimarer Republik hielt das Reichsgericht die Linken für gefährlich und die Nazis für nützlich oder harmlos. Und vor manchem Verwaltungsgericht haben es auch heute rechte Radikale leichter, in den öffentlichen Dienst zu kommen, als linke Radikale.
SPIEGEL: Ob 1881 ein Gewerkschafter, der zum Streik aufrief, wegen Erpressung verurteilt wurde oder ob 1981 Kernkraftgegner wegen Landfriedensbruch bestraft werden — macht sich die Justiz im Zweifelsfall zum Vollstrecker von Herrschaftsinteressen?
HIRSCH: So war es, aber so sollte es nicht sein. Leider sind die Richter, die sich wie Erfüllungsgehilfen der Mächtigen gebärden, immer noch nicht ganz ausgestorben. Ethischer oder politischer Staatsschutz genießt bei den meisten immer noch höhere Priorität als der Schutz vor dem Staat. Der Durchschnittsrichter ist konservativ — und er hat eine furchtbare Angst vor dem Kommunismus. Wenn er älter ist, hat er dem Dritten Reich gedient — ob nun als Richter oder als Soldat –, und er ist überzeugt, er habe dies durchaus ehrenwert getan.
SPIEGEL: Ist das der Grund dafür, daß die NS-Justiz bei bundesdeutschen Gerichten so gut weggekommen ist? Hitlers Volksgerichtshof produzierte allein in den Jahren 1942 bis 1945 pro Arbeitstag durchschnittlich zehn Todesurteile. Nach Kriegsende wurden von westdeutschen Gerichten rund 6115 Angeklagte wegen der Beteiligung an NS- und Kriegsverbrechen rechtskräftig verurteilt. Ein Angehöriger des Volksgerichtshofs war nicht darunter.
HIRSCH: Einmal steht Herr Filbinger sicher nicht allein mit seiner Entschuldigung — was damals Recht war, kann heute doch kein Unrecht sein. Zum anderen liegt die Ursache wohl auch im Dogma von der richterlichen Unabhängigkeit, das besagt: Wenn man Richter bestraft, weil sie ein bestimmtes Urteil gefällt haben, dann gibt es keine richterliche Unabhängigkeit mehr. Dann müßte sich der Richter immerfort fragen: Kann ich eventuell wegen dieses Urteils in einem späteren Regime verurteilt werden?
SPIEGEL: Warum nicht, wenn ihn diese Selbstprüfung davor bewahrt, den „Dolch des Mörders“, wie es im Nürnberger Militärgerichtsprozeß gegen Nazi-Richter hieß, „unter der Robe des Juristen“ zu verbergen?
HIRSCH: Ich will ja nur erklären, wie der Durchschnittsrichter denkt. Er meint, daß die rechtsprechende Gewalt diesen Schutz braucht. Das heißt: Jeder andere haftet für berufliches Versagen, der Richter nicht.
SPIEGEL: Ein Richter kann nicht grob fahrlässig handeln?
HIRSCH: Ein Richter kann nicht grob fahrlässig handeln, bei ihm muß Absicht vorliegen. Das ist natürlich nie zu beweisen. Darum gibt es, wenn ich mich nicht sehr irre, nicht eine einzige Verurteilung eines Richters wegen Rechtsbeugung. Auch für NS-Mordprozesse hat der Bundesgerichtshof entschieden, daß ein Richter wegen Mordes nur verurteilt werden kann, wenn ihm Rechtsbeugung nachgewiesen wird …
SPIEGEL: … wenn ihm also nachgewiesen wird, daß er absichtlich falsches Recht gesprochen hat.
HIRSCH: Wenn er sich verteidigt und sagt, damals habe ich das für richtig gehalten, ich war vollkommen davon überzeugt, dann kann er nicht zur Rechenschaft gezogen werden …
SPIEGEL: … Musterbeispiel war der Freispruch für den ehemaligen Volksgerichtshof-Beisitzer Hans-Joachim Rehse …
HIRSCH: … Nur wenn er dumm ist und sagt, ich habe das alles für falsch gehalten, aber mir blieb nichts anderes übrig, dann wird“s kritisch für ihn.
SPIEGEL: Der Berliner Justizsenator Gerhard Meyer hat in einer Untersuchung ( „Im Namen der deutschen Volkes — ) ( Todesurteile des Volksgerichtshofes“. ) ( Sammlung Luchterhand, Neuwied; 160 ) ( Seiten; 12,80 Mark. ) das Problem auf den Punkt gebracht: KZ-Wächter, die im Glauben an die Verbindlichkeit von Hitler-Befehlen Juden getötet haben, wurden wegen Mordes bestraft. Richter, die wegen eines politischen Witzes die Todesstrafe verhängten, blieben straffrei. Schützt da nicht Juristen-Dogma, schützt da nicht das sogenannte Richter-Privileg die Mörder in der Richterrobe?
HIRSCH: Es ist die Frage, ob der Volksgerichtshof und die Sondergerichte nach 1939 überhaupt Gerichte waren. Ich würde sagen: Sie waren keine Gerichte, sondern Mordmaschinen. Angehörige des Volksgerichtshofs — und auch der Sondergerichte — haben keinen zusätzlichen Schutz verdient. Niemand mußte Sonderrichter und niemand mußte Volksrichter werden. Das einzige, was die riskiert hätten, wäre gewesen, an die Front zu kommen. Da ärgert sich ein alter Frontsoldat, der seinen Kopf hinhalten mußte für “ne Sache, die er verachtet hat. Wer in der Robe auf Weisung gemordet hat, darf das Richter-Privileg nicht beanspruchen.
SPIEGEL: Sonst würde, wie Senator Meyer hervorhebt, Rechtsblindheit zwar den Richter entschuldigen, aber nicht den Laien.
HIRSCH: Wenn der Bürger darüber nachdenkt, muß er justizfeindlich werden. Es kann einen gerecht denkenden Menschen nur empören, wenn irgend so ein kleines Würstchen, das in die SS geraten ist, wenn der also unter Umständen lebenslänglich kriegt und derjenige, der kraft seiner Bildung, kraft seiner Ausbildung, kraft des Rechtsgefühls, das er eigentlich haben sollte -wenn also der feine Mann in der Robe ungeschoren davonkommt. Ohne Zweifel: Aus solchen Gründen ist das Vertrauen in die Justiz — ich sag“s sehr vorsichtig — nicht so, wie es sein sollte. Schon Tucholsky hat gesagt: Justiz hat nicht unbedingt etwas mit Gerechtigkeit zu tun. In anderen Ländern sind beide Begriffe bezeichnenderweise identisch.
SPIEGEL: Im Volksgerichtshof saßen fanatische Anhänger Hitlers, aber auch das oberste Gericht der traditionellen Gerichtsbarkeit, das Reichsgericht …
HIRSCH: … ich weiß, ich weiß: Die obersten Richter haben nicht nur Nazi-Gesetze angewandt, sondern sie ohne Not verschärft, zum Beispiel die sogenannten Rassenschande-Gesetze.
SPIEGEL: Die Nazis wollten den Geschlechtsverkehr zwischen Ariern und Juden bestrafen. Den Reichsrichtern ging das nicht weit genug: Sie dehnten die Verfolgung auf jede Zärtlichkeit aus — zum Schutz „der deutschen Ehre“.
HIRSCH: Da wird“s eben besonders schlimm. Die Reichsgerichtsräte können sich nicht herausreden und sagen: Es blieb uns ja nichts anderes übrig, der Gesetzgeber hat das Gesetz gemacht, und wir haben es anzuwenden. Da sind vom Richtertisch aus Verbrechen verübt worden — nicht nur mit der Erweiterung des Rassenschandebegriffes. Ich denke insbesondere an Fälle, wo wegen Rassenschande sogar die Todesstrafe verhängt worden ist — beispielsweise mit der makabren Begründung, erschwerend komme hinzu, daß die Intimitäten unter Ausnutzung der Verdunkelung stattgefunden hätten.
SPIEGEL: Wie ist das zu erklären, daß die Reichsrichter schlimme Gesetze auch noch verschärft haben?
HIRSCH: Entweder haben die Richter gedacht, sie müßten sich bei Hitler beliebt machen. Hitler hielt ja nichts von der Justiz. Oder die Ursache lag woanders — in dem professionellen Drang von Juristen, mit neuen, überraschenden Gedankenkonstruktionen zu glänzen.
SPIEGEL: Zum Beispiel?
HIRSCH: Als es darum ging, ob der nach 1933 geschlossene Vertrag zwischen einem jüdischen Schriftsteller und Regisseur und der größten deutschen Filmgesellschaft rechtsgültig sei, führte das oberste deutsche Gericht in Leipzig die „Person minderen Rechts“ ein. Und um den Vertragsbruch abzusegnen, erfanden die Reichsgerichtsräte die Figur des „bürgerlichen Todes“ zu Lebzeiten.
( Diemut Majer: „Fremdvölkische im ) ( Dritten Reich“. Harald Boldt Verlag. ) ( Boppard am Rhein: 1034 Seiten; 96 ) ( Mark. )
SPIEGEL: Die „Person minderen Rechts“ entsprach juristisch genau S.96 dem, was die Nationalsozialisten rassenideologisch artikulierten.
HIRSCH: Diktaturen können von einer gleichgeschalteten Justiz Ergebnisse erzwingen, nicht aber perverse Begründungen.
SPIEGEL: Die sind freiwillige Eigenleistung der Richter? Gekonnte Juristerei?
HIRSCH: Gekonnte Juristerei -das ist wahrscheinlich das Übel. Die Geschichte der Justiz im Dritten Reich beweist: Juristen sind zu allem fähig.
SPIEGEL: Die Reichsgerichtsräte waren nicht Geschöpfe Hitlers, sondern die Juristen-Auslese der Weimarer Republik — Absolventen einer Richter-Ausbildung, wie sie auch heute noch für ideal gehalten wird.
HIRSCH: Wiederholungsgefahr besteht immer, aber man darf hoffen. Die meisten Richter der Weimarer Republik waren, wie schon gesagt, eigentlich Staatsfeinde. Sie lehnten die Republik ab — so ist es heute natürlich nicht. Aber in bestimmten Situationen könnte es auch bei uns wieder kritisch werden. Man muß daher sehr aufpassen.
SPIEGEL: Was tun?
HIRSCH: Das Problembewußtsein schärfen. Viele Richter kommen bei der Anwendung des sogenannten einfachen Rechts gar nicht auf die Idee, auch mal an die Verfassung zu denken, auch mal an die Grundrechte. Sie vergessen leicht, daß sie nicht nur ans Gesetz gebunden sind. Sie sind an Recht und Gesetz gebunden. Ein feiner Unterschied. Ein Gesetz kann Unrecht sein.
SPIEGEL: Das Gespür für Unrecht hat aber offenbar nicht unbedingt etwas mit dem juristischen Sachverstand zu tun. Da drängt sich unwillkürlich ein Name auf, der des ehemaligen Reichsgerichtspräsidenten Erwin Bumke. Er war einer der brillantesten Juristen der Weimarer Republik, gleichsam die Verkörperung der juristischen Qualifikation, ein Mann von so bestechendem Fachwissen, daß er auch heute für jeden Chefpräsidenten-Posten in der bundesdeutschen Justiz gut wäre.
HIRSCH: Bumke war ein Konservativer, noch nicht mal ein Parteigänger Hitlers. Trotzdem lieferte gerade er den historischen Beweis, daß die beste Qualifikation einen Richter nicht vor perverser Rechtsauslegung bewahrt.
SPIEGEL: Qualifikation — was ist dieser Begriff, nach dem auch heute wieder der Nachwuchs beurteilt wird, denn eigentlich wert?
HIRSCH: Da berühren Sie einen ganz neuralgischen Punkt. Der alte Ludwig Thoma hat ja mal treffend gesagt: Er ist ein Einser-Jurist, aber auch sonst von mäßigem Verstand. Selbstverständlich wäre es abwegig, dem Einser-Juristen eine entsprechende Stellung in der Justiz zu verwehren. Doch bei uns kommt die menschliche Qualifikation zu kurz. Zum Richter gehört keinesfalls nur Paragraphen-Kenntnis, sondern auch ein Gefühl für Recht und Gerechtigkeit, allgemeine Bildung, menschliche Wärme.
SPIEGEL: Sicher, nur fühlt der eine so und der andere so. Und wie soll man menschliche Wärme messen, Herr Hirsch?
HIRSCH: Das ist natürlich sehr schwierig. Ich bin durch meine Erfahrungen im Richterwahlausschuß des Bundestages überzeugt, daß die Wahl, jedenfalls bei den obersten Bundesgerichten, zu besseren Ergebnissen führt als früher die Ernennung durch die Justizbehörden.
SPIEGEL: Prüfung durch verschiedene Personen unter verschiedenen Aspekten?
HIRSCH: Ich hatte im Richterwahlausschuß ein Schlüsselerlebnis: Fritz Bauer, der unter Demokraten hochangesehene Frankfurter Generalstaatsanwalt, war Berichterstatter im Fall eines von einer Justizverwaltung für den BGH vorgeschlagenen Kandidaten, der brillante Examina und vorzügliche Vorgesetzten-Benotungen vorweisen konnte. Bauer hatte die Akten und referierte: Auf Blatt soundso, noch aus der NS-Zeit, findet sich ein Brief des Kandidaten an den Landgerichtspräsidenten. Er zeigt an, daß seine Frau und er aus der katholischen Kirche ausgetreten sind. Ein paar Jahre später ein Brief, wieder an den Landgerichtspräsidenten, mit einer Geburtsanzeige und dem Hinweis, daß er und seine Frau ihr Kind selbstverständlich nicht hätten taufen lassen. Zuletzt fischte Bauer einen dritten Brief aus den Akten, aus dem Jahre 1946. Der Mann, der Bundesrichter werden wollte, vermeldete, daß er und seine Frau wieder in die katholische Kirche eingetreten seien. Fritz Bauer fragte: Muß ich sonst noch etwas über den Mann sagen? Er mußte nicht.
SPIEGEL: So gut hat der Wahlausschuß bei der Auslese von Bundesrichtern aber nicht immer aufgepaßt.
HIRSCH: Für meine Zeit möchte ich das behaupten. Natürlich geht es bei der Wahl auch um Weltanschauungsfragen. Die rechte Seite wird einen Richter vorziehen, der mehr für Ordnung ist, und die andere hoffentlich einen, der mehr für Freiheit ist.
SPIEGEL: Es gab aber Zeiten, da war beim Bundesgerichtshof die Fraktion der ehemaligen Sonderrichter größer als die Fraktion der eingeschriebenen Sozialdemokraten.
HIRSCH: Ursache dafür war, daß in der Zeit nach dem Kriege die wahre Tätigkeit der Sondergerichte kaum bekannt war. Ich selbst habe erst relativ spät erfahren, wie die Sondergerichte gewütet haben — davon etwa, daß ein Schäferhund als Belastungszeuge auftrat. Weil der knurrte, als er den Angeklagten sah, einen Polen, war dessen Täterschaft für das Sondergericht erwiesen. Jeder Zwirnsfaden, der geeignet war, einen Angeklagten aufzuhängen, wurde von den Sondergerichten aufgegriffen. Leider hatte das für die meisten dieser Sonderrichter nach 1945 keine Folgen.
SPIEGEL: Die Neigung, sich mit diesem Kapitel der NS-Unrechtsjustiz zu beschäftigen, war lange Zeit, selbst in Ihrer Partei, der SPD, gering.
HIRSCH: Ich muß das bestätigen. Ende der fünfziger Jahre wollte ich eine parlamentarische Anfrage an die damalige bayrische Regierung richten: Was gedenkt die Regierung mit den Nazi-Blutrichtern in Bayern zu tun? Dieser Antrag ist nie im bayrischen Landtag gestellt worden, weil schon bei uns in der Fraktion die Mehrheit der Meinung war, man sollte doch an diese Dinge nicht mehr rühren.
SPIEGEL: An dieser Lethargie krankt die deutsche Justiz bis heute. Nur ein Beispiel: Letzte Instanz für Prozesse gegen den Radikalenerlaß ist das Bundesverwaltungsgericht in Berlin. Berichterstatter im Zweiten Senat für diese Fälle war der Bundesrichter Dr. Edmund de Chapeaurouge, ein Mann, der in der NS-Zeit mindestens an einem Rassenschande-Urteil mitgewirkt hat. Wie glaubwürdig wird eine Justiz, die einen solchen Mann zum Sachwalter der „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ macht?
HIRSCH: Ja, wem sagen Sie das? Natürlich wäre es richtig gewesen, keinen durch Unrechtsurteile belasteten Richter wieder in die deutsche Justiz zu übernehmen. Doch diese Chance war früh verpaßt. Später verabschiedete der Bundestag einen Kompromiß: Es wurde den Leuten freigestellt, sich vorzeitig pensionieren zu lassen.
SPIEGEL: Nur 143 Richter und Staatsanwälte haben von diesem Angebot S.99 Gebrauch gemacht. Mal von der anderen Seite her gefragt: Wäre ein Marxist als Bundesrichter heute in Karlsruhe vorstellbar?
HIRSCH: Ein Richter, der sich offen zum Marxismus bekennt, würde -vorsichtig ausgedrückt — bei der überwiegenden Zahl seiner Kollegen jedenfalls nicht viel Anklang finden.
SPIEGEL: In der Zeit der Kommunisten-Hysterie der fünfziger Jahre entschied der Bundesgerichtshof: „Wer sich, ohne Mitglied der (kommunistischen) Freien Deutschen Jugend zu sein, an mehreren Tagen einige Stunden lang zur Auskunftserteilung und zur Entgegennahme etwaiger Teilnehmer-Anmeldungen für das von der FDJ veranstaltete 2. Deutschland-Treffen Pfingsten 1954 bereitgehalten hat, macht sich, auch wenn kein Interessent erschienen war, des Verbrechens nach den Paragraphen 128, 49, 94 StGB schuldig.“ Heute wirkt das lächerlich, damals war es dem BGH bitterernst. Kann man da, ohne rot zu werden, von Recht reden?
HIRSCH: Ich werde rot, das ist ein ziemlich schändliches Kapitel der deutschen Rechtsgeschichte — nur zu erklären durch die Hysterie des Kalten Krieges. Aber in anderen Ländern ist das ähnlich gewesen. Die Antikommunisten-Kampagne in den Vereinigten Staaten ist dort erst durch den Supreme Court, den obersten Gerichtshof, beendet worden.
SPIEGEL: Bei uns hat aber, umgekehrt, der oberste Gerichtshof, der BGH, kräftig mitgehalten.
HIRSCH: Das ist allerdings der Unterschied. In Amerika waren es parlamentarische Gremien, also die Untersuchungsausschüsse, die dann gestoppt wurden, während bei uns also tatsächlich — leider — das oberste Gericht diesen groben Unfug mitgemacht hat, nicht nur mitgemacht, sondern ihn noch angeheizt hat.
SPIEGEL: 1966 ließ das Verfassungsgericht einen ehemaligen Gestapo-Mann frei, der beschuldigt war, ungezählte jüdische Mitbürger, „darunter Kinder und Kleinkinder, durch Schüsse in den Kopf mit einer Maschinenpistole getötet zu haben“. Weil er fünf Jahre in Untersuchungshaft saß, entschieden die Verfassungsrichter: „Versäumnisse der Strafrechtspflege“ dürften „auch dann nicht zu Lasten eines Angeschuldigten gehen, wenn er dringend verdächtig ist, an der Ausrottung eines Bevölkerungsteils mitgewirkt zu haben“.
HIRSCH: Ich kann mich an die Entscheidung erinnern.
SPIEGEL: Glauben Sie, daß irgendein deutscher Richter, Verfassungsrichter einbegriffen, heute einen mutmaßlichen RAF-Mann unter Berufung auf diesen höchstrichterlichen Spruch aus der U-Haft entließe?
HIRSCH: Zunächst möchte ich betonen, daß ich diese Entscheidung für richtig gehalten habe und heute noch für richtig halte, weil ich der Meinung bin, daß die Justiz eben keinen Unterschied machen darf zwischen rechts und links. Und staatsbürgerliche Rechte hat auch ein Nazi-Mörder, solange er nicht verurteilt ist. Ich will nicht hoffen, daß bei einem linken Terroristen — wenn es ein ähnlicher, wirklich vergleichbarer Fall wäre — anders entschieden würde.
SPIEGEL: Ein anderes Beispiel: der Freispruch für den Euthanasie-Arzt Dr. Kurt Borm. An dem Mediziner waren während der NS-Zeit 6652 Geisteskranke nackt vorübergegangen in die als „Duschraum“ getarnte Gaskammer. Der BGH nahm Borm die Schutzbehauptung ab, er habe von einer „heimtückischen Tötungsweise“ nichts bemerkt, sondern die tausendfache Vergasung für einen Akt der Barmherzigkeit gehalten.
HIRSCH: So ein Ergebnis liegt im wesentlichen an der unvollkommenen Formulierung des deutschen Mord-Paragraphen — Heimtücke oder nicht? Ich hätte den Arzt vermutlich verurteilt. Aber juristisch ist dieser Freispruch sicher haltbar. Natürlich muß auch solchen Leuten gegenüber der Grundsatz „in dubio pro reo“ gelten.
SPIEGEL: Kommen da für den Bürger, für den Rechtskonsumenten, nicht alle Proportionen durcheinander?
HIRSCH: Ich weiß, daß da schon Rechnungen aufgemacht worden sind: Bei 10 000 Judenmorden bekommt der Angeklagte für jeden toten Juden zwei Tage. Wenn ein Demonstrant eine Scheibe eingeworfen hat, kriegt er wegen Landfriedensbruch unter Umständen zwei Jahre ohne Bewährungsfrist. Das versteht kein junger Mensch, obgleich solche Rechnungen natürlich schief sind.
SPIEGEL: Fünf Ermittlungsrichter in Nürnberg machten das logisch Unmögliche möglich: für 141 Einzelpersonen ein und denselben Tatverdacht, ein und dieselbe Fluchtgefahr sowie ein und dieselbe Verdunklungsgefahr festzustellen. Es war eine nahezu perfekte Gedankenübertragung. Die Richter haben, wie es heißt, keine Befehle bekommen. Sie haben aber ganz zufällig dem Erwartungshorizont von Franz Josef Strauß, Gerold Tandler und Karl Hillermeier entsprochen — Überanpassung, wie gehabt?
HIRSCH: Das ist ein bedenklicher Vorgang. Aber Nürnberg hat ein Signal gesetzt. In Zukunft wird sich ähnliches kaum wiederholen, weil die deutsche Öffentlichkeit wachsam geworden ist. Es ist ganz erstaunlich, wie viele positive Zuschriften ich auf meine öffentliche Kritik an der Massenverhaftung bekommen habe, so viele wie noch nie in meinem Leben. Und daß Richter einzeln und in Gruppen, unter vollem Namen, beispielsweise in Leserbriefen an den SPIEGEL, die Nürnberger Aktion als Rechtsbruch verurteilen und sich vom Fehlverhalten ihrer Kollegen distanzieren — so etwas hat es in Deutschland bislang nicht gegeben.
SPIEGEL: Unterstellt, daß die Richter keine Anweisungen von oben bekommen haben: Wie erklären Sie, daß fünf Einzelrichter von sich aus die Strafprozeßordnung auf den Kopf stellen?
HIRSCH: Das ist auch für mich nach wie vor ein Geheimnis. Wenn das ein Richter gewesen wäre, gut — Richter machen auch Fehler. Aber daß fünf — da brauche ich noch nicht mal an die Verfassung zu denken — das einfache Recht so grenzenlos falsch angewandt und das Jugendgerichtsgesetz völlig ignoriert haben, das ist eigentlich unerklärlich.
SPIEGEL: Wenn Sie heute nicht 68, sondern 30 wären, vielleicht Richter auf Probe, und wenn Sie Ihre Meinung so ungeniert sagten, wie Sie dies tun -glauben Sie, Herr Hirsch, daß Sie Schwierigkeiten bekämen?
HIRSCH: Das könnte gut sein, wenn ich, sagen wir mal, in einem Leserbrief, in einer Richterversammlung oder bei der Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Juristen (ASJ) …
SPIEGEL: … deren Bundesvorsitzender Sie sind …
HIRSCH: … wenn ich also dort unverblümt meine Meinung sagte, müßte ich wohl mit Sanktionen rechnen. Es gibt ja solche Beispiele, wo junge Richter wegen ihrer Meinungsäußerungen zur Verantwortung gezogen worden sind. Was mich betrifft — in manchen Justizverwaltungen würde man wohl sagen: Der paßt nicht in die Crew.
SPIEGEL: Herr Hirsch, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.